Der Boulevard-Code

Das Thema Aufmerksamkeitsökonomie treibt Medienmanager um. Eingetaucht in den allumfassenden Infostrom verlieren Menschen 2018 das Gefühl für Zeit, Raum und manchmal sogar für ihren Verstand. „Die Stunden haben ihre Uhr verloren“, formuliert es Vicente Huidobro treffend. Um Aufmerksamkeit gezielt zu wecken und zu lenken, haben sich liquide Wegzeichen wie Apps, #Hashtags und Empfehlungen etabliert. Ein gutes Beispiel für zeitgeistige Nutzung hat der AI-Spezialist Chaslot mit einem investigativen Computerprogramm herausgearbeitet, welches das „Up Next“-Verhalten des geheimen YouTube- Algorithmus aufzeichnet. Unter https:// algotransparency.org kann jeder mitverfolgen, welchen Weg die automatisierten Empfehlungen nehmen. Beginnend mit einem beliebigen Video. Ohne Viewing History. Den Ergebnissen der tausenden Tests zu Themen wie „Deutschlandwahl“, „Globale Erwärmung“ oder „Mass Shootings“ ist eines gemein: Alle Wege führen zu sensationsgeladenen Verschwörungstheorien. Der Algorithmus folgt dem Boulevard- Code. Das zeigt Auswirkungen auf die Themenwahl und den daraus resultierenden Werbeumsatz der Produzenten. Vor Kurzem gab es einen Aufschrei wegen Gewaltvideos, die auf YouTube Kindern ausgespielt wurden. Einer der verantwortlichen YouTube Creators, dessen Karriere damit begann, dass er Kinder dabei filmte, wie sie geimpft wurden oder um ihre toten Haustiere trauerten, gab an, in der Produktion vor allem auf die Bedürfnisse des Algorithmus reagiert zu haben. „We learned to fuel it and do whatever it took to please the algorithm.“ Wir sind hier mit einer neuen Art von „Boulevard-Gates“ konfrontiert, die Schwelle, die im Boulevard jede Nachricht bezüglich Leserinteressen und wirtschaftlichen Abwägungen überwinden muss. Schon 1997 beobachteten Curran und Seaton eine Bedeutungsverlagerung zu sensationalistischeren, lokaleren und individualistischeren Nachrichtenwerten. Infotainment regiert den aktuellen Diskurs, selbst informierende Darstellungsformen weisen heute unterhaltende Züge auf. Auf futurezone.at lieferte der Physiker Florian Aigner vor wenigen Tagen mit seinem treffsicheren Kommentar „Macht dumme Menschen nicht berühmt!“ ein Plädoyer für sinnvolle Aufmerksamkeitsökonomie. „Die genialsten Ideen der größten Genies unserer Zeit sind rund um die Uhr überall frei verfügbar – genau wie atemberaubende Musik, geistvolle Literatur und fein recherchierter Journalismus. Aber warum zum Teufel ist das Internet dann voll von banalen Beauty-Tipps, politischen Hetzparolen und dummen Verschwörungstheorien?“, fragt er und schlussfolgert gleich im nächsten Absatz: „Der Grund ist, dass wir nicht verstanden haben, wie wertvoll unsere Aufmerksamkeit ist.“ Im Grunde stehen wir vor einem Henne-Ei-Problem. Medienmacher setzen weltweit auf erhöhten Unterhaltungswert und machen dem Leserhirn so die Unterscheidung von wertvollem und sinnbefreitem Content immer schwerer. Gleichzeitig stürzen sich die Konsumenten bereitwillig mehrmals täglich in den reißenden Strom – bis die Stunden ihre Uhren verloren haben. Eine Lösung ist noch nicht in Sicht. Sicherlich sind die sprießenden Qualitätsinitiativen lobenswert, doch werden sie bei den Konsumenten ankommen? Siegreich werden die Medienmanager hervorgehen, die sich auf Dauer am obersten und untersten Ende der Skala behaupten können. Möge die Vernunft mit ihnen sein! Ihre Tatjana Lukáš Autor: Tatjana Lukáš