Wie digital ist der Handel?
Investitionen in digitale Lösungen rentieren sich. Denn die Ausgaben im Internet-Einzelhandel gehen mittlerweile in die Milliarden.
Gerne wird oft und laut verkündet, dass die Digitalisierung den unternehmerischen Fortschritt und Erfolg fördern – auch und gerade im Handel. Der in Deutschland veröffentlichte „Digitalisierungsindex Mittelstand“ geht in die Details: Investitionen in die Digitalisierung tragen dazu bei, den Umsatz zu steigern, Kosten zu verringern und insgesamt flexibler zu werden. Freilich gebe es andererseits noch immer zahlreiche mittelständische Händler, die nicht einmal über eine Internetpräsenz, geschweige denn über einen Onlineshop verfügen. Und wie „digi-fit“ sind Österreichs Handelsunternehmen? Für 2019 hat der Handelsverband eine eCommerce Studie vorgelegt, die die Bedeutung der Entwicklung herausstreicht: Denn, die Ausgaben im Internet-Einzelhandel steigen auf ein Rekordniveau von 7,5 Mrd. Euro. Der Medienmanager hat mit Handelsverband-Geschäftsführer Rainer Will über Details gesprochen.
MedienManager: Wie „digi-fit“ zeigen sich Österreichs Handelsunternehmen? Wo gibt es vor allem noch Handlungsbedarf?
Rainer Will: Gegenwärtig zeichnet sich ein neues Wirtschaftsparadigma ab – eine Form des Handels, die online und offline zusammenführt: der Onlife-Handel. Der Onlife-Handel fußt auf den vier neuen Megatrends in der Ära des vernetzen Wirtschaftens, in der die Smart Economy dazu führt, dass Sensoren in Echtzeit die Bedürfnisse von uns Menschen antizipieren, die Sharing Economy den Leitspruch „Mieten statt Kaufen“ propagiert, die Plattform-Ökonomie für eine massive Marktkonzentration mit wenigen globalen Spielern sorgt und die Circular Economy, also die Kreislaufwirtschaft, über den Fortbestand unserer Erde entscheidet, indem sie die negativen Auswirkungen unserer Hyperkonsumgesellschaft abfedert. Das Zusammenspiel dieser vier Entwicklungen führt zu neuen Chancen aber auch Verwerfungen.
MedienManager: Wie wirkt sich diese Entwicklung auf unsere (Konsum)Gesellschaft aus?
Will: Der Konsument unterscheidet nicht mehr zwischen online und offline, er kauft ein, wann, wo und wie er will. Sei es unterwegs am Handy, im Wohnzimmer per Sprachbefehl über Amazon Alexa oder auch mal im Supermarkt ums Eck. Die Customer Journey – also die Reise des Kunden vom Erstkontakt bis zum Kauf eines Produktes und darüber hinaus – ist so komplex aber auch so einsichtig wie nie zuvor. Sind wir mit einem Angebot im stationären Geschäft in Graz oder Schladming nicht zufrieden, ist das nächste Angebot auf Amazon nur einen Klick entfernt. Gleichzeitig wird unsere Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer – sie liegt mittlerweile „dank“ unserer Handys unter jener eines Goldfisches von 9 Sekunden.
MedienManager: Wie können Sie reagieren?
Will: Als Handelsverband versuchen wir mit unseren Initiativen, die Chancen für kleine, lokale Händler zu erhöhen. Unsere Klage gegen Amazon haben wir ganz bewusst als letztes Mittel gewählt, da wir lange kein Gehör gefunden haben, um faire Wettbewerbsverhältnisse für die Marktplatz-Händler sicherzustellen. Wir sind nicht „gegen“ Amazon, sondern „für“ einen fairen Marktplatz. Das heißt wir wünschen uns einen Marktplatz, der es unseren Händlern ermöglicht, auf diesem Vertriebskanal langfristig erfolgreich zu sein. Gleichzeitig sehen wir aber noch immer 9 von 10 Euro im Handel über den klassischen Ladentisch wandern. Daher versuchen wir mit unserer Plattform KMU Retail, ein Set an Services für stationäre Händler zur Verfügung zu stellen, damit diese ihre Geschäfte auch digital auffindbar machen. Das allein reicht nicht, ist aber besser als nichts. Zusätzlich zeigen wir Wege auf, die eigene Verkaufsfläche besser zu nutzen, wir bieten abmahnsichere Rechtstexte für Onlineshops oder ein 24h-Telefonservice an, damit die Händler selbst auf der Fläche aktiv sein oder sich erholen können. Im Kleinen braucht es eine klare Strategie, welche Kunden mit dem eigenen Produkt über welchen Kanal erreicht werden sollen.
MedienManager: Und wie steht es nun um die digitale Fitness der Handelsbetriebe?
Will: Viele österreichische Händler sind bereits „digi-fit“ und haben ihre Omnichannel-Strategien in den letzten Jahren erfolgreich vorangetrieben. Im Großen braucht es aber auch einen „New Digital Deal“ und eine Entdiskriminierung des stationären Handels, wir nennen das „Fair Commerce“. Warum können Konzerne wie Amazon mit 10 Mrd. Dollar Gewinn eine Steuergutschrift von 130 Mio. Euro erhalten? Kleine Händler, die eine Fläche anmieten, müssen hingegen Mietvertragsgebühren zahlen, bei denen der Finanzminister oft für fünf Jahre ein Prozent aller Mietkosten im Voraus kassiert. Damit finanziert sich der Staat auf dem Rücken von Startups vor, obwohl nur die Hälfte aller Händler fünf Jahre nach der Gründung noch existiert. Genau jene, die eine Fläche unterhalten, sorgen jedoch für Arbeitsplätze. Genau jene, die durch die Lohnnebenkosten in die Sozialtöpfe des Staates einzahlen, werden strukturell benachteiligt.
MedienManager: Die Online-Shopping-Ausgaben steigen und werden wohl kontinuierlich steigen… Wo sehen Sie die größten Entwicklungen in den nächsten Jahren?
Will: Der eCommerce ist definitiv die treibende Kraft hinter dem derzeitigen Umsatzwachstum im Gesamthandel. Allein 2018 sind die Online-Shopping-Ausgaben in Österreich um 11,2 Prozent gestiegen. Damit wächst der Onlinehandel bei uns 8-mal so schnell wie der stationäre Handel. Der Online-Anteil an den einzelhandelsrelevanten Ausgaben der Österreicher liegt bereits bei knapp 9 Prozent. Eine Stagnation ist nicht in Sicht, im Gegenteil, künftig könnte jeder dritte Euro im österreichischen Handel online erwirtschaftet werden. Der medial gehypte Voice Commerce steht zwar in Österreich noch am Anfang, die Nutzerzahlen steigen jedoch auch hierzulande exponentiell. Rund 450.000 Österreicher haben in ihrem Wohnzimmer bereits einen Smart Speaker mit Digitalassistenten installiert, auch hier hat Amazon mit Alexa die Nase vorne. Allein im letzten Jahr sind die Nutzerzahlen um 150 Prozent angestiegen, auch die Zahl der Voice-Shopper hat sich verdoppelt.
MedienManager: Welche Herausforderungen warten auf die Handelsunternehmen?
Will: Das Kaufverhalten der Menschen wandelt sich durch die Digitalisierung fundamental. Neue Technologien und Kanäle ermöglichen uns Kauf und Konsum in jeder Lebenslage. Die Dynamik dieser Veränderungen führt jedoch bei vielen Verbrauchern zur Rückbesinnung auf Werte wie Sicherheit, Vertrauen und Entschleunigung. Ihre Produktrecherchen und Einkäufe verlagern sich damit in die eigenen vier Wände – wir nennen das Couch-Commerce. Natürlich hat das Folgen für den stationären Handel: Die Zahl der Geschäfte, die Kundenfrequenz und das Ausmaß der Verkaufsflächen stagnieren und gehen insbesondere in B- und C-Lagen zurück. Tatsächliches Wachstum verzeichnen auf der Fläche nur noch Fachmarktzentren – seit der Jahrtausendwende hat sich ihre Zahl von 113 auf 264 mehr als verdoppelt.
MedienManager: Gibt es Branchen, die besonders „betroffen“ sind?
Will: Natürlich ist auch die Verschiebung der Umsätze Richtung eCommerce eine Herausforderung für unsere Händler. Neben den bislang im Netz dominierenden Warengruppen wie Bekleidung, Schuhe, Bücher und Elektroartikel wird der Onlinehandel für immer mehr Sektoren zu einem relevanten Vertriebskanal. Zuletzt durften sich u.a. Drogeriewaren (+47%), DIY-Produkte (+30%) und Einrichtungsgegenstände (+18%) über massive Zuwächse freuen. Im Lebensmittelhandel hingegen ist Online-Shopping noch eine Nischenangelegenheit. Aktuell werden österreichweit weniger als 2% aller Lebensmittel online bestellt. Die größte Herausforderung liegt hier nach wie vor in der Frische, denn der Transport frischer Ware ist extrem anspruchsvoll. Läuft etwas schief, wirft das einen Schatten auf die gesamte Lieferkette. Hinzu kommt die Crux, mit Online-Shops für Lebensmittel tatsächlich Gewinne zu erwirtschaften – das gelingt zurzeit fast niemandem. Vermutlich werden wir uns die Leberkässemmel auch in Zukunft eher im Supermarkt ums Eck holen als im Netz.
MedienManager: Wie sieht es für den Mittelstand aus?
Will: Für den heimischen Mittelstand ist zusätzlich das dynamische Wachstum und die bedingungslose Kundenorientierung globaler eCommerce-Plattformen eine enorme Herausforderung. Wir Konsumenten haben uns an die Vorzüge von Amazon Prime gewöhnt und wollen besten Service, breite Warenverfügbarkeit, Click&Collect und bequeme Zustellung mit Bestpreisgarantie – egal ob online oder im stationären Handel. Die Konsequenz? Der Datenschatz des weltgrößten Online-Händlers wird immer umfangreicher. Amazon ist eigentlich keine Händler mehr, es ist in erster Linie ein Datenstaubsauger mit angeschlossenem Warenlager. An der Börse wird Amazon mit 825 Mrd. Euro bewertet und hat damit die deutschen Vorzeigeunternehmen Siemens (90 Mrd.) oder VW (83 Mrd.) längst hinter sich gelassen. Mittlerweile besitzt Amazon die Kundendaten von 93 Prozent aller österreichischen Online-Shopper. Damit kann das Unternehmen sein Angebot noch zielgerichteter und personalisierter auf die heimischen Konsumenten ausrichten und so den Abstand zur Konkurrenz sukzessive erweitern. Bereits heute fließen rund 4 Mrd. Euro an Online-Umsätzen unmittelbar ins Ausland ab – der Großteil an den Konzern von Jeff Bezos. So finanzieren österreichische Konsumenten mehr als 25.000 Arbeitsplätze in anderen Ländern – und die Zahl steigt.