Medienwissen versus digitale Besoffenheit
Es braucht Aus- und laufende Weiterbildung als Medizin gegen den digitalen Rauschzustand der werbetreibenden Unternehmen.
Noch nie zuvor war die Geschwindigkeit der sich verändernden Technologien und Methoden unserer crossmedialen Welt so hoch. Die Halbwertzeit des Wissens nimmt dabei ständig ab, die Informationsflut hingegen legt ungebremst zu. Wer nicht auf dem neusten Stand ist, wird rasch von der Flut der Neuerungen überrollt. Allerdings nicht immer zum eigenen Schaden. Denn nicht jede Innovation, die am digitalen Medien-Lehrplan steht, ist in der Realität auch wirklich ein Erfolgsmodell. Was es vom Internet etwa zu berichten gibt, klingt nicht immer berauschend. Das reicht von „In keinem Medium ist die Diskrepanz zwischen dem, was versprochen wird, und dem, was abgeliefert wird, so groß wie im Digitalen“ (Uwe Storch) bis „Irgendwas läuft also schief im digitalen Lala-Land“ (Christof Baron). Letzten Juli gipfelte all das zum einen im Facebook-Werbeboykott, dem sich über 800 Unternehmen weltweit angeschlossen haben, und zum anderen in der generellen Hinterfragung der Werbewirksamkeit so mancher digitalen Plattform.
Thomas Koch, ein Urgestein und scharfer Beobachter der Medienbranche, bringt es auf den Punkt: Was bedeutet Wissen im digitalen Mediendschungel überhaupt? Früher haben Mediaplaner Medien auf ihre Eignung durchleuchtet. Heute? Herrscht kundenferne Arroganz. Wider besseres Wissen wird sich an Kanäle geklammert, die regelmäßig underperformen. Weiters meint Koch: Inzwischen spricht man nicht mehr von Medien, sondern von Plattformen, was in der Informatik „Abstraktionsebene“ bedeutet. Wir nennen sie vermutlich deshalb Plattformen, damit es nicht nach diesem vorsintflutlichen Begriff „Medien“ klingt. Denn diese Medien sterben bekanntlich seit 20 Jahren aus. Die alten jedenfalls. Davon ist zwar wenig zu sehen und nichts zu spüren, aber das hält die Leute nicht davon ab, immer wieder gebetsmühlenartig Teufel an Wände zu malen. Print stirbt – und war dennoch die wichtigste und unverzichtbarste Nachrichtenquelle der letzten vier Monate. Fernsehen stirbt – und war dennoch die wichtigste und unverzichtbarste Informations- und Unterhaltungsquelle der vielen Wochen, in denen wir von Staats wegen das Haus zu hüten hatten. Kino stirbt angeblich auch – obwohl es das eigentlich gar nicht mehr kann, weil es schon mindestens drei Mal gestorben ist. Womit Kino so etwas wie ein fortwährend wiedergeborener Heiliger wäre. In Wahrheit gibt es mehr Print-Neuentwicklungen als je zuvor. Und Printjournalismus ist zu etwa 80 Prozent die Quelle für jede Form digitalen Plattform-Contents. In Wahrheit erfreuen sich die TV-Sender bester Gesundheit und noch größerer Beliebtheit. Die Mediatheken erzeugen hierzulande bisweilen Reichweiten, von denen YouTube nur träumen kann. Zitat Ende.
So, und jetzt? Kann es sein, dass wir schon wieder vor einem großen Umdenkungsprozess stehen, was digitale Werbung betrifft? Nicht nur, dass es inzwischen zahllose Enttäuschungen und Marketingstrategien gibt, die im Digitalen nicht funktionieren, lässt es sich nicht mehr wegdiskutieren, dass die Werbewirksamkeit von TV, Radio, Print, Out-of-Home etc. in vielen Fällen nicht nur die Nase weit vorne hat, sondern diese Kanäle wesentlich umweltfreundlicher sind, als es das Internet jemals sein wird.
Nun denn. Wollte man uns in den digitalen Anfängen Glauben machen, dass eine ganz neue Welt der Marketing-Kommunikation durch ihre unfassbare Reichweite und treffsicheren Algorithmen eine unversiegbare Quelle skalierbarer Umsätze beschert, die durch am Markt verfügbare Experten zum Wohle des Unternehmens ihre heilbringende Wirkung entfacht und die Chance auf unendliches Wachstum offenbart, so stellen wir heute desillusioniert fest, dass so etwas wie die eierlegende Wollmilchsau halt eben doch nicht existiert.
Also dann vielleicht doch back to the roots?
Ihr
Otto Koller