All dieses Big- und Small-Data-Zeugs
Was passiert, wenn sich im Unternehmen alles nur um Zahlen dreht
Wie lange dauern die durchschnittlichen Smalltalk-Gespräche beim Warten an den Aufzügen? Wie viele IT-Pannen löst die entsprechende Abteilung pro Tag aus? Und wie lange zieht sich der durchschnittliche Besuch in Betriebskantine, Raucherecke und Toilette hin? Angekommen im digitalen Zeitalter werden in Unternehmen inzwischen Unmengen an Daten verarbeitet und verwaltet. Alles wird gemessen, analysiert, bewertet, beurteilt. Kein Entscheid mehr muss ohne fundierte Zahlenauflistung gefällt werden. Aber ist das eigentlich noch sinnvoll?
Das fragt sich auch Hannes. Der 49-jährige studierte Betriebswirt ist Produktionsleiter und Mitglied der Geschäftsleitung eines internationalen Industriekonzerns. Er gewährt einen Einblick, was auf der Management-Etage eigentlich so gedacht und getan wird. Übrigens: Ein Schmunzeln aufgrund dieser Business-Satire ist durchaus erlaubt…
Korrelationen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen, Statistiken und Machbarkeitsarithmetik haben Diskussionen über Vor- und Nachteile abgelöst. Man will nicht einfach aus dem Bauch heraus irgendetwas tun, sondern alles soll eine solide Basis haben. Das wäre ja noch schöner, wenn man einfach beispielsweise die Wahl der Farbe des neuen Logos einfach so mal nach „gefällt mir mehr“ oder „gefällt mir weniger“ fällen würde.
Da dienen heute psychologische Gutachten, die beschreiben, welche Emotionen welche Farben bei wem zu welcher Gelegenheit auslösen. Daten skizzieren, welche der Farben bei den Mitbewerbern, die auch wirklich erfolgreich sind (was in sich auch wieder mit Zahlen fundiert werden kann), am meisten schon vorkommen und man sich dann nicht mehr abheben kann.
Nun hat das Geschäftsleitungsgremium beschlossen, auf diesem Pfad, dessen erfolgreiche Zeit sich selbstverständlich auch mit einem zehnseitigen Bericht mit je etwa fünf Tabellen, 18 Kuchendiagrammen und nachgezählten rund 100 Zahlenangaben beweisen lässt, weiterzufahren.
Vertieften Analysen für Soft-Faktoren
Hannes darf als Leiter der Produktion, die an sich prädestiniert ist, Berechnungen anzustellen, den internen Markt beleuchten und hinterfragen. Produktionstechnisch ist zwar seit langem klar, wie viele IT-Pannen die entsprechende Abteilung pro Tag lösen muss, an welchen Wochentagen die Schwerpunkte liegen. Klar ist auch, nach welchen Feiertagen am meisten Krankenabwesenheiten zu verzeichnen sind. Belegt ist ebenfalls schon seit längerem, wie lange sich der durchschnittliche Besuch in Betriebskantine, Raucherecke und Toiletten hinzieht. Die Auswertung zeigt Säulen für Mitarbeiter, Alters- und Hierarchiegruppen separiert.
Hannes ist sich zwar nicht ganz im Klaren, was man mit all dem Big- und Small-Data-Zeugs macht, aber gut ist sicherlich schon, wenn man das alles weiß… Nun geht es um die Zufriedenheit und die weichen Faktoren. Man soll nicht nur wissen, wie lange die durchschnittlichen Smalltalk-Gespräche beim Warten an den Aufzügen zum Personalrestaurant dauern, sondern wie zufrieden das Warten vor der Kaffeemaschine gemacht hat, wenn man zuschaut, wie sich die mittlere, dunkle oder helle Mokka-Mischung mit der Milch für den Cappuccino vereinigt.
Jetzt wird gevotet, was das Zeug hält
Also beginnt Hannes, systematisch Orte zu bezeichnen, wo unmittelbar eine Bewertungs-Box hingestellt werden soll. Die Bewertungsbox „Votix“ ist ein selbst produzierter kleiner Voting-Apparat auf einer Dreibeinstütze und den beliebten, großen Buttons mit den drei Smileys „lächeln“, „neutral“, „wütend“. Alternativ wird es auch eine Smartphone-App geben, wo gleiches bewertet werden kann.
Konkret ist somit ist der Vorgang beschrieben: Wer die Kaffeetasse der Maschine wieder entnimmt, wird sofort per App aufgefordert (oder macht es manuell an der Votix), die Zufriedenheit des Kaffeeoutputs zu bewerten. So geht es weiter. Man darf voten, wie sauber die Toiletten empfunden wurden, wie kompetent die IT-Supporter das Problem lösten, wie zügig die Kollegin am Empfang die Besucher-Karten ausgefüllt hat, wie zufrieden man mit dem Duft des neuen Reinigungsmittels der Tiefgarage ist, was man von der Anlaufzeit der neuen Klima-Anlage im Sitzungszimmer hält.
Zwischen Votix, WhatsApp und 4,316 Minuten Toilettengang
Selbstverständlich baut Hannes im Prozess und den entsprechenden Steuerungsprogrammen auch noch eine Sicherheitsschlaufe ein. Da jegliche Voting-Stationen den Personal-Badge erkennen, weiß man auch, wer vergessen hat, zu beurteilen. Diese Person erhält demnach eine Stunde nach dem Toilettengang eine WhatsApp und eine E-Mail mit dem Text: „Vor kurzen durften wir Sie auf unseren Toiletten begrüßen. Ihr Besuch dauerte 4,316 Minuten und der Wasserverbrauch war durchschnittlich. Es freut uns, wenn Sie uns noch beurteilen. Danke, Ihr Hausdienst“.
Hannes ist beruhigt, mit relativ einfachen Mitteln geschafft zu haben, worüber man sich schon lange Sorgen macht. Sind die Mitarbeiter tatsächlich mit den peripheren, internen Dienstleistungen zufrieden? Was die Zahlen dann wirklich aussagen, das herauszufiltern, ist ein Projekt fürs nächste Jahr und was allfällige Folgen davon sind, reicht auch, wenn das bis ins übernächste Jahr noch reifen kann. Man muss ja nichts überstürzen, gerade bei solch strategisch wichtigen digitalen Konzepten…
Fachliches Fazit
„Zählen und Messen ist die Grundlage der fruchtbarsten, sichersten und genauesten wissenschaftlichen Methoden“, schrieb Hermann von Helmholtz im Jahr 1879. Wer hätte gedacht, wie recht der Physiologe und Physiker von einst bekommen wird. In der Zeit, als Thomas A. Edison die erste Glühlampe zu leuchten brachte und der Salpeterkrieg in Südamerika herrschte, hat er vorweggenommen, was 140 Jahre später zum Mantra in Unternehmen geworden ist: Nur was in Zahlen messbar ist, gibt es. Das eigentliche Controllerdenken ist im Sog von Balanced Scorecards und ähnlichen Aspekten zur Vernunfterklärung geworden. Selbst das, was eigentlich nicht messbar ist, wie „Motivation“ oder „Zufriedenheit“, wird in eine Skala gequetscht.
Die Sehnsucht nach Objektivität ist das eine, das Verstecken hinter Zahlen ist das andere. Wer schlechte Zahlen liefert, dem muss man nicht erklären, warum einem sein Einsatz nicht passt. Man lässt die Zahlen sprechen und das entbietet den Manager von heute, dass er „selbst“ artikulieren sollte, was er als Feedback geben müsste. Jegliche Art von Leistungsbeurteilung wird über den Leisten des in Zahlen Messbaren geschlagen.
Nun sind weder Zahlen noch das Messen schlecht, aber der Umgang mit dem Gemessenen lässt wohl tatsächlich noch etwas Spielraum zum Besseren. Es fehlt der Referenzpunkt, und dann nimmt man ihn von nebenan und tauft ihn Benchmark. „Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt.“ So formulierte es Albert Einstein.
Als Effekt dieser Messmanie geht das gute Augenmaß gerne verloren. Eine so genannte Scheinobjektivität dient häufig als Deckmantel für Subjektivität und klare Erwartungshaltung. Protagoras‘ berühmter Satz „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ gibt uns die Richtung vor. Er setzt den Menschen als Interpret vor die Dinge. Jede Wahrnehmung ist von der Perspektive abhängig.
Über den Autor:
Der Schweizer Stefan Häseli ist Experte für glaubwürdige Kommunikation, Business-Kabarettist und Autor mehrerer Bücher.