Zwischen ethischen Fragen und praktischen Antworten
Screenforce Expertenforum widmet sich Künstlicher Intelligenz
Über 800 Teilnehmer waren beim zweiten Expertenforum des Jahres am World TV Day dabei, das sich aus mehreren Perspektiven dem derzeit dominierenden Thema widmete. Philosophische Betrachtungen lieferte Julian Nida-Rümelin, bayerischer Staatsminister a.D.
Künstliche Intelligenz verändert den gesamten Medienmarkt und lässt in der Kommunikationswirtschaft seit Jahren keinen Stein auf dem anderen. Entsprechend vielschichtig und kontroversiell wird das Thema, vor allem seit der Einführung von Chat GPT, diskutiert. Dabei gehen die Meinungen zwischen Zukunftshoffnung und Dystopie diametral auseinander. Screenforce nutzte den World TV Day am Dienstag, um beim zweiten Expertenforum des Jahres sowohl bereits bestehenden Praxisnutzen als auch ethische Fragestellungen zu thematisieren. Über 800 Teilnehmer waren beim multinationalen digitalen Live-Event dabei und erlebten unter anderem, wie eine Marke durch das Zusammenspiel unterschiedlicher KIs in wenigen Minuten entstehen kann.
„Kaum ein Thema hat unsere Branche in den letzten Jahren so bewegt und verändert wie Künstliche Intelligenz. Umso lauter wird die Diskussion geführt und umso mehr braucht es Einordnung und Erklärung“, leitet Screenforce-Deutschland-Marketingleiterin Uschi Durant in das Expertenforum ein.
„Künstliche Intelligenz ist in der Kommunikationswirtschaft und den Medien angekommen und verändert den Arbeitsalltag. Diskussionen wie das Screenforce Expertenforum tragen dazu bei, sie richtig als technologische Unterstützung einzuordnen und kritisch zu hinterfragen. Im Total Video Business der Broadcaster ist sie im inhaltlichen, redaktionellen Bereich besonders kritisch zu hinterfragen, wo es um Glaubwürdigkeit und Vertrauen sowie den Faktor Mensch geht. In Anbetracht der rasanten technologischen Entwicklung muss die Diskussion über Künstliche Intelligenz und die rechtlichen Rahmenbedingungen insbesondere unter Medienschaffenden sehr intensiv und auf möglichst breiter Basis geführt werden, um Vorteile gewinnbringend zu nutzen und gesellschaftliche Risiken zu minimieren“, so Walter Zinggl (IP Österreich), Sprecher von Screenforce Österreich.
Digitaler Humanismus
Julian Nida-Rümelin ist ehemaliger Staatsminister für Kultur und Medien im Freistaat Bayern, war Mitglied im deutschen Ethikrat und widmet sich dem Thema auf ethischer und philosophischer Ebene. Seine Meinung ist in Wien im Rahmen der Smart-City-Entwicklung zu Fragen des digitalen Humanismus regelmäßig gefragt. Seine Keynote steht unter dem Titel „Ist der digitale Humanismus die angemessene Antwort auf die ethischen Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz?“.
Die Europäische Union verfolgt einen dritten Weg im Umgang mit Künstlicher Intelligenz, der sich stark vom kommerziell orientierten der Vereinigten Staaten und vom politisch kontrollierten Chinas abgrenzt. Schlagworte wie „Transparent AI“, „Responsibility AI“ oder „Digital Sovereignity“ prägen die Strategie, sind inhaltlich jedoch nicht weit gediehen. Die Infrastruktur könnte staatlich oder in Stiftungsstrukturen bereitgestellt werden, wobei es auch hier im AI Act noch keine konkreten Vorstellungen gibt.
„Jede Technologie weckt einen weltanschaulichen Überschuss zwischen Euphorie und Hysterie“, fasst der Philosoph und Autor zusammen.
Nida-Rümelin meint, dass überzogene Erwartungen zu überzogenen Ängsten führen, und zieht den Vergleich mit der Gentechnik, die Befürchtungen vor geklonten Menschen schürte. Der Unterwerfungstechnizismus würde so große Ängste generieren, die zu einer Bremsung der Entwicklung führen. Er warnt davor, dass technologische Innovationen den Antihumanismus fördern können. Die Produktivitätssteigerung durch die digitale Transformation schätzt er im Vergleich zur Einführung der Dampfmaschine als vergleichsweise gering ein. Damals kam es etwa zu einer massiven Landflucht und die Arbeitszeit verlängerte sich auf 16 Stunden pro Tag. Es resultierte eine gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Revolution mit weitreichenden Folgen. Dagegen seien Google Maps und Tinder ein „laues Lüftchen“.
„Menschen sind Gründe-geleitete Lebewesen und die Autorinnen und Autoren ihres Lebens. Damit tragen sie Freiheit und Verantwortung in sich“, definiert Nida-Rümelin den Humanismus.
Die entscheidende Frage ist für ihn, ob Künstliche Intelligenz eigene Persönlichkeiten schafft, die beispielsweise beim autonomen Fahren haftbar gemacht werden. Er geht nicht davon aus, da Softwaresystem über keine mentalen Zustände, Einsichtsfähigkeit und damit Freiheit und Verantwortung verfügen – auch wenn es sich um selbstlernende Systeme handelt. Anderwärtige Theorien wie ein Parallelleben im Metaverse ordnet er als Rohrkrepierer ein. Viele Softwareentwickler versuchen in der Programmierung alte Mythen zu realisieren, wodurch es zu einer Vermenschlichung mancher Systeme kommt.
„Technologien müssen in den Kern der Wirtschaft und Produktion gebracht werden, anstatt Ängste vor der Transformation des menschlichen Wesens zu schüren“, fordert Nida-Rümelin. „Statt rigidem Datenschutz brauchen wir Datenopulenz, um Systeme zu verbessern und lernen zu lassen.“
Eine Einordnung: Hype oder historischer Umbruch?
Christian Bachem (Markendienst Berlin) ist als Strategieberater Experte der ersten Stunde und beschäftigt sich bereits seit 1989 mit dem Thema. Der Begriff selbst ist fast 70 Jahre alt, wobei es keine allgemeingültige Definition gibt. Mit „Eliza“ wurde schon 1966 das erste Sprachsystem aus der Taufe gehoben. Nach Jahren des Stillstands hat der Großrechner „Deep Blue“ den Schachweltmeister Garry Kasparow geschlagen, womit das Thema wieder in den Fokus der Öffentlichkeit rückte. Seit 2016 nimmt die Entwicklung wieder Fahrt auf. Chat GPT verhalf der Technologie 2022 schließlich zum Durchbruch auf allen Browsern und Smartphones. In Google Maps, Google Translate, Netflix und zahlreichen Targeting-Lösungen im Programmatic Advertising steckt bereits seit Jahren Künstliche Intelligenz.
„Generative KI verhält sich zu Artificial Intelligence wie Marketing zu Werbung“, veranschaulicht Bachem.
Im Marketing wird KI derzeit vor allem für Analytics, Budgetallokation, Lead Generation, Controlling, Mediaplanung, Prognosen, Themenidentifikation, Trend- oder Traffic-Analysen sowie Zielgruppenidentifikation und -definition eingesetzt. Auf der Basis von komplexen Algorithmen und Logiken und im Verbund unterschiedlicher KI-Systeme lässt sich beispielsweise der Einsatz des Mediabudgets unter Berücksichtigung des Mitbewerbs optimieren.
„Die Tech-Landschaft im Marketing wird künftig um Künstliche Intelligenz im Zentrum aufgebaut werden“, prophezeit Bachem.
Konkrete Lösungen: Zusammenarbeit von Künstlichen Intelligenzen lässt eine Marke samt Produkten entstehen
Am Beispiel einer Kaffeemarke demonstriert Jens Polomski (Jens.Marketing), wie der Markenaufbau mit Künstlicher Intelligenz gelingt. Marktstudien im Vorfeld können durch einander gegenseitig beauftragende KIs durchgeführt werden. Auf dieser Basis werden erste Vorschläge generiert, die als Markenideen durch Chat GPT überprüft werden können. Identität, Botschaft oder Positionierung entstehen automatisiert. Polomski empfiehlt, sich über Tools wie Miro eine zweite Meinung zu den Marken-Basics einzuholen, bevor andere KIs mit der Designerstellung beauftragt werden. USP, Slogan oder Markenstory lassen sich in Chat GPT ebenso erstellen wie inhaltliche Vorschläge für den Website Content. Spezialisierte Tools wie Framer AI erstellen binnen weniger Minuten eine fertige Website, die bearbeitbar ist und um interaktive Tools aus anderen KIs angereichert werden kann. Chat GPT liefert auch gleich die passenden Vorschläge für die fertigen Produkte, während Dall-E3 die Visualisierung übernimmt. Der Content für den Blog und das Content Marketing kommt von Neuroflash und kann von Chat GPT gleich für die Veröffentlichung auf unterschiedlichen Plattformen optimiert wird. Das Promovideo machen Elevenlabs und Runway und die Sprecherstimme kommt von Elevenlabs, während Music Gen von Meta den passenden Sound liefert. Wondercraft erstellt den fertigen Podcast für das akustische Markenerlebnis. Noch mehr zu hören gibt es von Suno: Diese KI komponiert und vertont den eigenen Song für die Marke. Für weiteres Wachstum sorgt Gamma App und erstellt Präsentationen für Investoren.
„Microsoft mit Copilot und Google integrieren Künstliche Intelligenz in ihre Tools. Damit wird sie automatisch zum Bestandteil des Workflows“, so Polomski. „KI erweitert die begrenzten menschlichen Fähigkeiten. Sie vereinfacht und verbessert die Arbeit. Die Entwicklung zu ignorieren, wäre der größte menschliche Denkfehler.“
Hinsichtlich des Datenschutzes hofft er auf klare Regelungen der Europäischen Union und vergleicht die aktuelle Situation mit dem Wilden Westen.