Digital berauscht von eindrucksvollen Wachstumszahlen und zugleich zerrissen zwischen egozentrischen Kundenwünschen
Die internationale Medienszene bleibt voller Widersprüche. Außerdem hat die weltweite Vertrauensdiskussion hat inzwischen alle Teilbereiche der Nachrichtenproduktion erreicht und sorgt für längst fällige Reformen.
Ein junger Mann liegt in seinem Bett, sein Kopf mit einem Kissen leicht erhöht und scrollt mit seinem Zeigefinger über den Bildschirm des Smartphones. Noch schläfrig geht er im verdunkelten Zimmer die Neuigkeiten auf seinem Startbildschirm durch, im Hintergrund schimmert schwach ein Bild von ihm und seiner Freundin auf einer Party. Hinter den geschlossenen Jalousien geht gerade die Sonne auf, noch fünfzehn Minuten bis der Wecker zum wirklich letzten Mal zum Morgenrapport ruft.
Fünfzehn Minuten, das ist Zeit genug für einen schnellen Scan der am lautesten um Aufmerksamkeit buhlenden Nachrichten, die über Nacht eingelangt sind: automatisierte Newsalerts von Apple News, Upday und Konsorten, Social-Media- Benachrichtigungen, persönliche Geschichten von Freunden.
Globaler Stereotyp
Dass dieser junge Mann zum global präsenten Stereotyp geworden ist und sowohl Omar, Jack als auch Jens heißen kann, lässt sich aus dem neuen Reuters Digital News Report herauslesen. Denn die Digitalisierung ist, seit Etablierung des jährlich erscheinenden Oxford- Standardwerks, ein globales Thema. Doch auch eines „voller Widersprüche und Ausnahmen“, wie Studienleiter Nic Newman gleich in der Einführung klarstellt.
Gut vorführen lässt sich dieses Spannungsfeld an der Art, wie Leser zum Konsumieren der Nachrichten auf der eigenen Website gebracht werden. Aktuell funktionieren beispielsweise Newsletter via E-Mail besonders gut. Vom Totgesagten zum Quotenbringer, das wird von Fachmagazinen gefeiert und von Verantwortlichen in den Verlagen umgesetzt, ob althergebracht als Auswahl des Tages oder mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) auf den jeweiligen Abonnenten zugeschnitten. Doch wie die Erhebung zeigt, funktioniert dieses Modell gut, aber eben vor allem für die Zielgruppe 45+. Jüngere Menschen reagieren darauf kaum.
Hype um News Alerts
Bei ihnen kann man besonders stark mit News Alerts punkten, wie im eingangs erwähnten Beispiel. Dieser Vertriebsweg hat sich über die letzten drei Jahre zu einem der wichtigsten Kanäle gemausert, weil die erste Tages Tageshandlung junger Menschen der Griff zum Smartphone und damit der Blick auf den Sperrbildschirm ist. Hier setzen die meisten Verleger bereits auf die Hilfe von KI, denn der Hype der letzten Jahre hat eine steigende Anzahl von News Alerts mit sich gebracht – im Schnitt knapp vier pro Tag – und da gilt es durch personalisierte Relevanz zu punkten. Es gilt dabei also alle zu bedienen, unabhängig von ihrem Alter, ihrer unterschiedlichen Sozialisation oder geografischen Lage.
Print im Wandel
Die steigende Diversifikation zeigt auch Auswirkungen auf das Printgeschäft. Mehr denn je gibt das Vertrauen in die Marke den Ausschlag, ob gekauft, abonniert oder via Spenden die Nachrichtenproduktion aktiv vom Konsumenten unterstützt wird. Jeder Einzelne will überzeugt sein.
In Zeiten fallender Werbeeinnahmen gewinnt der verbreitete Inhalt wieder mehr an Bedeutung, am deutlichsten zeigte sich diese Entwicklung im letzten Jahr im Bereich der Qualitätszeitungen. Verhalf in den USA der sogenannte „Trump Bump“ der angesehenen Tageszeitungen New York Times und Washington Post zu neuen Absatzhöhenflügen, ist ein ähnliches Phänomen auch im politisch herausgeforderten Europa zu beobachten. Generell bewährt sich in Zeiten von Fake News das Vertrauensprinzip à la „schon seit Jahrzehnten am Markt, am besten mit Broadcasting Hintergrund“ laut Reuters-Report derzeit am besten.
Öffentlich-Rechtliche in Abwehrhaltung
Wer an Medienunternehmen dieser Kategorie denkt, dem fallen zuallererst öffentlich-rechtliche Sender ein. Gerade diese mussten im letzten Jahr weltweit schweren Angriffen standhalten. Auch wenn sich nach wie vor laut Studie viele Menschen über ihre Plattformen informieren und vor allem TV trotz fallender Reichweite weiterhin eine wichtige Rolle spielt, dienen sie doch nur in Ausnahmefällen als alleinige Informat ionsquel – le und blockieren durch ihre Onlineaktivitäten in vielen Ländern die Einführung einer digitalen Bezahlallianz. Besonders in Europa haben sich vielerorts Politiker und Artverwandte im Verlauf der brodelnden Fake-News-Debatte dazu aufgeschwungen, die Qualität der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung in Frage zu stellen. Das führte etwa zu einer Volksabstimmung über Rundfunkgebühren in der Schweiz, einer angekündigten Gesetzesänderung in Frankreich und zu massiven Budgeteinschnitten in Dänemark. Was Öffentlich- Rechtliche bisher gegen weitere Maßnahmen geschützt hat? Die starken Marken- und Vertrauenswerte in der Bevölkerung.
Investition in die Marke
Es gilt also dringend in die Marke zu investieren, denn sowohl die Einnahmen über Vertrieb als auch über Werbung befinden sich in allen westlichen Ländern weiterhin im Fallen. Wie die WAN-IFRA in den zuletzt veröffentlichten World Press Trends aufzeigt, generierte die globale Nachrichtenindustrie 2016 geschätzt 153 Milliarden, wovon 86 Milliarden US-Dollar im direkten Vertrieb erwirtschaftet wurden und 68 Milliarden aus Werbeeinnahmen entstammen – rund 15 Milliarden weniger als noch 2012. Sowohl im Werbe- als auch im Vertriebsgeschäft hat zudem die digitale Konkurrenz global gesehen volle Fahrt aufgenommen. Insgesamt macht digitale Werbung derzeit zwar erst 6 Prozent des Gesamtumsatzes aus, ist aber in den letzten fünf Jahren um 32 Prozent gewachsen. Auch der digitale Vertrieb von Nachrichtenprodukten wächst kontinuierlich, allein im letzten Jahr um zwanzig Prozent. Für die Printzirkulation gibt es in allen westlichen Ländern schlechte Nachrichten von Rückgang und Verdrängung, global hingegen ist Print fast fünf Prozent im Jahr 2016 und beeindruckende 21 Prozent über die letzten fünf Jahre gewachsen. Geschuldet ist diese Entwicklung vor allem den starken Printmärkten in Indien und Restasien, die alle übrigen weltweiten Verluste mit einer unglaublich starken Performance ausgleichen.
Ungewisse Social-Media-Zukunft
Wachstum, Wachstum, Wachstum heißt es allerortens – vor allem im digitalen Kosmos – aber stopp, ein Feld scheint gesättigt zu sein, zumindest in den hochentwickelten Regionen: Social Media. Wie der Social-Media-Report des anerkannten Pew Research Centers zeigt, ist in entwickelten Ländern der Bedarf offensichtlich bei sechzig Prozent der Bevölkerung stagniert und hat auch in Entwicklungsländern, die in den letzten fünf Jahren rasant aufgeholt haben, mit 53 Prozent einen ähnlichen Grad erreicht.
Auch wenn es bezüglich der Verbreitung der etablierten Plattformen kaum mehr Neuigkeiten gibt, in puncto Distribution von Nachrichten war es sowohl für Facebook und seine Subunternehmen wie Whats- App als auch für Twitter das turbulenteste Jahr seit ihrer Gründung. Fake-News-Gewitter, Anhörungen vor US-Senat und EU-Parlament, interne Abwandlung der etablierten Algorithmen und zuletzt bei Facebook sogar der Rückzug der Nachrichten. Postings von Freunden und Familien sind seit Jahresbeginn wichtiger gewertet, Nachrichten tauchen in den Newsfeeds nur mehr selten auf. Das hat einerseits vielen Medienunternehmen weltweit zahlreiche Klicks gekostet, besonders solchen wie der Huffington Post, deren Verbreitung fast nur über Social Media funktionierte, könnte aber auch für Facebook zum Boomerang werden. Denn in einer Welt, die „voller Widersprüche und Ausnahmen“ ist, gibt es zu denken, dass die Reuters-Probanden in ihren Interviews deutlich davon Abstand nahmen, weniger Nachrichten in ihrem Stream sehen zu wollen. Das würde für viele das Angebot weitaus uninteressanter machen und es sie weniger nutzen lassen. Es ginge einzig allein um die Sicherstellung von vertrauenswürdigen Nachrichten. Also um Vertrauen. Zusammenfassend das wichtigste Thema, das die internationale Medienbranche derzeit in verschiedensten Facetten zu beackern hat.