Psychiaterin Kastner für Riegelvorschieben bei Hass im Netz
Die Linzer Gerichtspsychiaterin Adelheid Kastner nimmt den Fall der oberösterreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr, die in der Vorwoche nach Drohungen aus der Impfgegner-Szene Suizid begangen hat, zum Anlass, die Notwendigkeit Sozialer Medien in Demokratien in Frage zu stellen. Denn die Anonymität im Netz, die in autoritären Regimen für den Widerstand unentbehrlich sei, würde hier allzu oft dazu verwendet, „gedanklichen Unrat“ zu verbreiten, meinte sie im APA-Gespräch.
Nachdem Kastner auch in einem der Abschiedsbriefe Kellermayrs erwähnt worden sei, „werde ich mich aus gutem Grund nicht zu unmittelbar relevanten Fallthemen äußern“, stellte sie klar. Zur allgemeinen Thematik Hass im Netz und welche Gefahren davon ausgehen können, bezog sie jedoch Stellung. Ausgangspunkt ist für die Psychiaterin das Fehlen eines „sozialen Regelwerks in den ‚asozialen Medien‘. Es wurde mehr oder weniger zusätzlich Raum geschaffen, in dem man sich ohne unmittelbare soziale Ächtung auf eine Art und Weise benehmen kann, wie man das im alltäglichen Leben nicht täte, da man ja dann Gefahr liefe, sich als völlig unsäglicher, übergriffiger Mensch zu outen.“ Die „Spitze des sozialen Regelwerks“ sei das Strafrecht, das einen daran hindere, „die Sau heraus zu lassen“.
Und offensichtlich stecke in „relativ vielen die Sau“, soziale Hemmungen würden ganz offensichtlich wegen der Anonymität wegfallen. Es bestehe kein Bedarf mehr zu überlegen, weil es ja nicht mehr auf den Verfasser „zurückfallen kann“, es entfalle die „Angst vor Rechenschaft“.
In „weit über 90 Prozent der Fälle handle es sich um Verbalattacken“, ist Kastner überzeugt. Man fühle sich „mächtig und stark, weil man dem anderen Angst macht“. Allerdings, so gibt sie zu bedenken, gebe es auch „Ankündigungen“ für eine Tat. Das Problem sei, „man kann es nicht wissen, man ja nicht a priori unterscheiden kann, ob jemand nur ’sein Mütchen kühlt'“. Bei „sadistischen Rachefantasien, überbordend und unrealistisch“, würde sich die Psychiaterin eher weniger fürchten, aber wenn nur jemand sage „ich bringe dich um“, sei die Lage anders.
Die „Immunität der Netzwerke“ ermögliche es, dass sich Menschen mit analog unpassenden Denkweisen zusammenrotten. Früher sei es nicht möglich gewesen, sich „mit fehlgeleiteten Menschen zu vernetzten, was in asozialen Netzwerken möglich ist“. Aus ihrer Sicht brauche es daher „in erster Linie eine Diskussion um die Nutzung der sozialen Medien. Will man das überhaupt, in diesem Rahmen so zu kommunizieren“, fragt sie nicht nur sich, sondern auch die Politik. Sollte man dem „nicht einen Riegel vorschieben“. Sie sehe im Gegensatz zu autoritären Staaten in einer Demokratie „keinen schützenswerten Grund, warum man nicht dazu stehen soll, was man meint“.
Die Frage, warum die Betreiber sozialer Netzwerke „unter einer Käseglocke“ stehen und sich „keiner mit ihnen anlegen will“, beantwortete sie selbst: „Offenbar gibt es wenig politischen Willen.“ Kein Verständnis hat Kastner auch, dass man mit der kleinen Gruppe offenbar „sozial unverträglicher Individuen“ – sie geht von einem einstelligen Prozentsatz in der Bevölkerung aus – ständig „den Dialog suchte“. Die Argumentation, dass keine Gräben gezogen oder eine Spaltung der Gesellschaft hervorrufen werden soll, verstehe sie nicht.