Julian Assange: Märtyrer oder skrupelloser Hacker?
Die Mauern um das „Gefängnis Ihrer Majestät“ HMP Belmarsh sind so hoch wie ein zweigeschoßiges Einfamilienhaus. Wo man hinblickt, sind Überwachungskameras und Scheinwerfer angebracht. In der schwer gesicherten Anstalt im Südosten Londons sind etwa 900 Gefangene inhaftiert. Es sind die berüchtigtsten Terroristen, Mörder und Sexualverbrecher des Vereinigten Königreichs – und WikiLeaks-Gründer Julian Assange.
Am 4. Jänner soll vor dem Central Criminal Court in der britischen Hauptstadt über die Auslieferung des 49-Jährigen an die USA entschieden werden, wo er unter anderem wegen Spionage angeklagt ist. In Amerika droht ihm im Falle einer Verurteilung ein Strafmaß von bis zu 175 Jahren.
Die US-Justiz wirft dem gebürtigen Australier vor, gemeinsam mit der Whistleblowerin Chelsea Manning – damals Bradley Manning – geheimes Material von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan gestohlen und veröffentlicht zu haben. Assange habe damit das Leben von US-Informanten in Gefahr gebracht, so der Vorwurf. Seine Unterstützer sehen in ihm hingegen einen investigativen Journalisten, der Kriegsverbrechen ans Licht gebracht hat – ein Video beispielsweise dokumentierte die Tötung von Zivilisten durch eine US-Hubschrauberbesatzung im Irak.
Der chinesische Künstler Ai Wei Wei, Ex-Model Pamela Anderson und viele andere Prominente machten sich bereits für Assange stark und besuchten ihn im Gefängnis. Doch Besucher werden in Belmarsh seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie keine mehr empfangen. „Ich habe ihn seit März nicht mehr gesehen und seine Partnerin und seine Familie seitdem nur einmal“, sagt Assanges Vater, John Shipton, der Deutschen Presse-Agentur.
Der 76-Jährige reist seit Jahren unermüdlich um die Welt, um für die Freilassung seines Sohnes zu werben Eigentlich wollte er Anfang Jänner in die USA fliegen, um den Kontakt mit dem Team des künftigen US-Präsidenten Joe Biden aufzunehmen. Doch die Coronavirus-Pandemie hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er kann Australien derzeit nicht verlassen.
Von dem Demokraten Biden erhofft sich Shipton eine Begnadigung für seinen Sohn, sollte er ausgeliefert werden. Immerhin hatte Ex-Präsident Barack Obama der Whistleblowerin Chelsea Manning die Haftstrafe erlassen. Für erneuten Ärger sorgte damals jedoch, dass WikiLeaks wenige Wochen vor der US-Wahl im Jahr 2016 gehackte Emails aus dem Team der demokratischen Kandidatin Hillary Clinton veröffentlichte – die daraufhin die Wahl gegen Donald Trump verlor.
Vielleicht deshalb gibt es sogar in der republikanischen Partei inzwischen Stimmen, die sich für ein Pardon aussprechen. Die ehemalige Gouverneurin von Alaska, Sarah Palin, veröffentlichte vor wenigen Tagen ein Video, in dem sie für eine Begnadigung plädierte. „Ich unterstütze ihn“, sagte sie. Palin wollte 2008 an der Seite des inzwischen verstorbenen republikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain zur Vizepräsidentin der USA gewählt werden. WikiLeaks veröffentlichte damals auch Emails und Fotos der erzkonservativen Politikerin – sie verglich Assange daraufhin mit den islamistischen Fundamentalisten der Taliban. Nun sagt sie: „Ich habe einen Fehler gemacht.“ Assange habe durch seine Tätigkeit der Welt einen Gefallen getan. „Er hat eine Begnadigung verdient.“
Shipton ist zwar überzeugt, dass die Verteidiger seines Sohnes die besseren Argumente haben, trotzdem fürchtet er, es könne am 4. Jänner eine Niederlage vor Gericht geben. Grund dafür sei vor allem die aus seiner Sicht „willkürliche und böswillige“ Behandlung seines Sohnes in dem Verfahren. Während Anhörungen im Gericht müsse Assange in einen Glaskasten sitzen, nur durch einen schmalen Spalt könne er mit seinen Anwälten kommunizieren. Doch einen Antrag, ihn im Gerichtssaal neben seinen Verteidigern Platz nehmen zu lassen, habe die Richterin abgelehnt. Bevor er in den Gerichtssaal geführt werde, werde er zudem demütigenden Leibesvisitationen unterzogen.
Auch der UNO-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, fürchtet, dass Assange kein faires Verfahren bekommt. „Was wir sehen, ist, dass die Briten Julian Assange systematisch seiner grundlegenden Rechte berauben, seine Verteidigung vorzubereiten, Zugang zu seinen Anwälten und zu rechtlichen Dokumenten zu haben“, sagte er der Deutschen Welle. Er erwartete, dass die erste Instanz dem Auslieferungsantrag stattgeben werde, es sei denn Biden signalisiere, dass er einen anderen Ausgang wünsche.
Melzer hält die Unterbringung Assanges in einem Gefängnis für Schwerverbrecher für völlig unangemessen. „Es ist unnötig, es gibt keine rechtliche Basis dafür. Die Absicht ist eindeutig, andere Journalisten einzuschüchtern und ihn zum Schweigen zu bringen, damit er seine journalistische Arbeit nicht tun kann, zu deren freier Ausübung er klar berechtigt ist“, so Melzer weiter. Kritisch sieht der Schweizer auch die anhaltende Isolierung Assanges, die zunächst aus gesundheitlichen Gründen angeordnet wurde und inzwischen durch die Coronavirus-Pandemie gerechtfertigt wird. Schon längst zeige Assange typische Symptome von Opfern psychischer Folter.
Immerhin, sagte Shipton, könne Assange inzwischen regelmäßig mit seiner Partnerin telefonieren, wenn auch nur zehn Minuten pro Anruf. Assange ist seit 2015 mit der Anwältin Stella Morris liiert, mit der er zwei Kinder hat. Die Beziehung, die sich während eines mehr als sechsjährigen Aufenthalts in der ecuadorianischen Botschaft in London entwickelte, blieb der Öffentlichkeit lange Zeit verborgen. Nach Ausbruch der Corona-Pandemie wandte sich Morris an die Öffentlichkeit, weil sie im Gefängnis um sein Leben fürchtete. Dutzende Gefangene sollen dort inzwischen infiziert sein.
Assange hatte sich 2012 aus Furcht vor einer Auslieferung nach Schweden und weiter in die Landesvertretung Ecuadors gerettet und blieb dort bis zu seiner Festnahme im Frühjahr 2019. Ermittlungen in Schweden wegen Vergewaltigungsvorwürfen wurden später eingestellt. UNO-Experte Melzer hatte sie als „konstruiert“ bezeichnet.
Ganz gleich, wie das Urteil am 4. Jänner ausfällt. Das Ringen um das Schicksal Assanges wird noch lange nicht zu Ende sein. Beide Seiten, so wird erwartet, werden im Fall einer Niederlage in Berufung gehen.